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Keimzeit Sonntag, 24. November 2002, | ||||||
Was ist das für eine Idee –
Keimzeit im Gewandhaus? Tanzende, kreischende Fans, Idole zum anfassen,
durchrockte Nacht bis in den Morgen. Die Garderobieren werden dann wohl
schon gegangen sein, und die Türschließerinnen? Irgendwie wird es wohl
anders ablaufen müssen. Aber wie? Zu ihrem 20. Bandjubiläum
wagten sich ‚Keimzeit’ auch in ungewohnte Gefilde und brachten
ihre Show in drei klassische Konzerthallen. In Leipzig war es das Gewandhaus. Vorab, die Meinungen über das
Wagnis gingen weit auseinander. Mancher vermisste die unmittelbare Nähe
zu seinen Idolen. Brav und erwartungsvoll saß man auf seinem Platz im
nahezu ausverkauften Großen Saal, nichts übrig von Underground, von
Szene. Dafür schöpften sie die neuen Möglichkeiten, die ihnen das
Konzerthaus bot voll aus, präsentierten ihr Programm in ungewohnter aber
hervorragender Weise und ließen völlig neue Aspekte in ihr Konzert
Einzug halten. Nicht jedem gefiel die Idee. Gewiss, man musste ihnen schon
die Wandlung zugestehen und sich auf ein neues ‚Keimzeit’-Erlebnis
einlassen wollen, dann wurde man mit einer ausgefeilten Show und einer
ganz neuen Sounderfahrung belohnt. Bereichert wurde das Konzert durch drei
Gäste, die auch durch eigene Titel stilistisch wie klanglich zur
Abwechslung beitrugen. | ||||||
Nach zwanzig Jahren stetiger
Arbeit live und im Studio können sie mittlerweile aus einem schier
unerschöpflichen Fundus an Songs schöpfen, deren sensible Texte die
keimzeittypische poetische Kraft besitzen, die ihren Balladen eine ganz
besondere Melodie verleiht, die schon die Phantasie berührt, bevor man
die Bilder ganz verstehen kann. Ihre Kompositionen, zeichnet eine Leichtfüßigkeit
und Eingängigkeit aus, die jeden der Songs zum Hit werden lassen und doch
weit davon entfernt sind, simpel oder gar einseitig zu sein. Sie
transportieren in angemessener Weise die Texte direkt ins Herz der Zuhörer
und leben von frischen Arrangements wie auch vom schnoddrigen, teilweise
liebenswürdig naiven Vortrag des Sängers. Das pünktlich zum Jubiläum 2002
erschienene Album „1000 Leute wie ich“, das natürlich zur
Set-List gehörte, bedeutet eine Zäsur gegenüber den früheren Alben und
mag die Fans enttäuschen, die auf weitere Knaller wie „Maggie“,
„Kling Klang“, „Bunte Scherben“ oder „Hofnarr“
gewartet haben. In ihrer inhaltlichen Tiefe und Poesie knüpfen die Texte
an gewohnte Qualitäten an. Die Kompositionen sind ruhiger,
melancholischer und untermalen in ihrer Zurückhaltung die nachdenklichen
Texte, geben den Gedanken Zeit und Raum. Sujets und Musik verleiten
sicherlich nicht in der Weise zum Mitsingen und Springen, wie man es
unweigerlich bei „Kling Klang“ tun möchte. Ihrer musikalischen und
textlichen Klasse tut das aber keinen Abbruch. Insgesamt klingt das Album
nach innerer Auseinandersetzung und Abschied, nach Aufarbeitung und
Neuorientierung. Vermuten könnte man, dass es sehr viel persönlicher
ist, als es zugibt. Doch das bleibt Dank der Allgemeingültigkeit und dem
Fehlen jeglicher Banalität eine Mutmaßung. Zum Gelingen der Aufnahmen
trugen etliche Gäste zum Beispiel mit Kontrabass, Gitarren, Flügelhorn,
Waterphone, Harmonium oder Percussions bei und brachten in die maßvollen
Arrangements Farbe und Abwechslung. |
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Mit auf der Leipziger Bühne
standen von Ihnen Jan Plewka (Ex-Sänger bei ‚Selig’) und Etta
Scollo, die den Gesang von Norbert Leisegang als Background-Stimmen
bereicherten und auch eigene Titel sangen. Die in Hamburg lebende
Sizilianerin steht mit ihren Songs dabei in der guten Tradition
italienischer Songwriter und findet ihre musikalischen Wurzeln ebenso in
der Folklore ihrer Heimat. Sie singt mit gefälliger aber starker und
modulationsfähige Stimme, die nicht nur mit den Gesangsstimmen der Männer,
sondern gleichsam mit dem Saxophone wie mit der Querflöte wunderbar
harmonierte. Und so erlebten wir ein
abwechslungsreiches Programm, eine Werkschau, gewissermaßen die
Quintessenz der letzten zwanzig erfolgreichen Jahre einer Band, die in
dieser Zeit trotz Höhen und Tiefen kontinuierlich ihren unverwechselbaren
Stil in überzeugender Qualität auf die Bühne gebracht und auf ihre
zahlreichen Alben gebrannt hat. Die auf der Bühne hinter den
Musikern installierten Scheinwerfer setzten jeden einzelnen Titel
entsprechend in Szene. Mal zuckten kalte weiße Blitze über die Bühne,
über der der Nebel aufstieg, mal kreisten pinkfarbene Lichtscheiben, mal
gelbe Lichtkringel durch den Saal. Bei ‚Leute’ wurde die Bühne in
Ocker getaucht, bei ‚2002’ blitzten weiße Lichtpunkte im Blau. Für
jeden Titel gab es die passende Inszenierung. |
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Die etwas Steife Atmosphäre
lockerte sich allerdings nur langsam. Wenige Fans auf den Rängen wagten
es, sich verhalten im Takt zu bewegen. Langsam trauten sich mehr und mehr
Leute von ihren Plätzen. Spätestens bei der Hymne „Kling Klang“ gab
es dann eine Massenbewegung in Richtung Bühnenrand. Da war man schon fast
am Ende des Konzertes angelangt, zumindest am Ende des offiziellen Teils. Der Abend sollte aber die großen
Überraschungen noch bereithalten. Ralf Benschu brachte den
Kompagnon seines Site-Projektes, Jens Goldhardt mit. Der Organist
und der Saxophonist eröffneten von der Orgelempore aus den Zugabenteil
und spielten jazzige Improvisationen, bevor sich Andreas Spatz an den Flügel
schwang und Norbert Leisegang, Etta Scollo und Jan Plewka bei dem
schauerlich schönen Song „Karawane“ begleitete. In der
„Nachtvorstellung der Verrückten“ zelebrierte Ralf Benschu ein
weiteres Mal großartige Saxophon-Improvisationen und bis zum endgültigen
Finale erklangen noch viele der bisher nicht gespielten Hits aus dem
riesigen Fundus. Mit stehenden Ovationen bedankte
sich ein zum überwiegenden Teil glückliches Publikum bei seiner Band für
ein ungewohntes aber auf seine Weise reizvolles Konzert. pepe/flo
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