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Jens-Paul Wollenberger Die Geschichte vom einsamen Selb 25.09.2003, Moritzbastei, Leipzig |
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Buchvorstellung Jens-Paul Wollenberg Die Geschichte vom einsamen Selb Fünf Finger Ferlag, 152 Seiten, 8,- Euro Die schizophrene Ich-AG
Ob die AG im
Zusammenhang mit Ich nun Arbeitgeber oder Aktiengesellschaft heißt,
das ist bei Jens-Paul Wollenbergs „Geschichte vom einsamen Selb“
alles gleich: Er steht mit seinen Ich’s auf Du und Du,
zerspiegelt und zersplittert sich, und am Ende der Geschichte
singen tausend Ich’s auf einer gemeinsamen Pilgerfahrt ins
Nirgendwo alle gemeinsam (wieder eine AG): „Alle Wesen sind ein
Ich, / außer mir, ich bin an sich / ein Du, ein Er, ein Sie, ein
Es, / in jedem Fall ein Suchendes.“ Dieser
„literarische Orgasmus“ erscheint bereits am Anfang der
Geschichte in einem Brief, den das Ich an sich selbst geschrieben
hat. Doch wer ist dieses Ich? Der Untertitel der Geschichte gibt
Auskunft: „Politischer Sachbericht eines globalisierten
Landbriefträgers“. In der Uniformjacke und –mütze eines
solchen Briefträgers trägt Wollenberg die Geschichte auch vor. Man könnte
Jens-Paul Wollenberg in seinen kafkaesken Schachtelgeschichten und
seinem exzentrischen Vortragsstil auch einen tiefernsten
Romantiker nennen, der sich selbst und seine Gefühle permanent
bricht, ironisiert und auf die Schippe nimmt, damit er sie überhaupt
aushalten kann. Zwar ist ihm alles Wissenschaftliche und
Akademische verhasst („Mensch, bin ich faul.../ Anstatt ich was
Gescheites tu / Eventuell studieren“ heißt es in einem
Gedicht), dennoch bedient er sich stellenweise einer solchen
Sprache, um gerade eines der zentralsten Motive der Romantik zu
beschreiben, den Wanderer: „Ethnologisch betrachtet ist der
Wanderer unrassig. Er ist ein metaphorisches, morphisches,
zielloses Suchendes ohne Heimatliebe, ein von sich selbst
umhergetriebenes Individuum ohne Richtlinien, das seinen Ort
Nirgendwo nennt“. Oder eben Selb.
Eine Stadt in Oberfranken nämlich, in die das Ich von seinem
Westfreund Jordan eingeladen wird. Das ist eine der Geschichten,
die innerhalb der Gesamtgeschichte eine Eigendynamik entwickeln
und als Running Gag immer wieder auftauchen. Oder ist es „dieses
selbige Wesen an sich mit Namen Selb“, so ein langer
Hellblonder, der so komisch geht, „und’n Hund hat der auch
nicht“? „Jedenfalls,
ist doch egal“, das Ich trifft sich mit sich in der Kneipe,
setzt sich zu sich an den Tisch, lädt sich ein und kommt mit sich
ins Gespräch. Es kommt zu sich nach Hause, da sitzen sieben
Einschaltquoten auf dem Sofa und es befindet sich plötzlich als
Nachrichtensprecher im Fernseher. Oder es bucht eine Reise in sein
Ich, betritt ein Reisebüro, befindet sich plötzlich in seinem
eigenen Spiegel und muss die nächsten Seiten ein
zweidimensionales Leben fristen. Als schöner Bundeswehrsoldat
kommt sich das Ich auch körperlich näher. Plötzlich steckt es
in sich drin und vergewaltigt sich selbst. Dann ist da noch der
Schatten, Schlemil lässt grüßen, der ab und zu ein Eigenleben
annimmt. Gut, dass es endlich diese vielschichtige Geschichte in
Buchform gibt, sodass man die einzelnen Spiegelungen dieses
suchenden Ichs noch besser verfolgen kann. Neben dieser
zentralen Geschichte enthält der Band, übrigens die erste Veröffentlichung
Wollenbergs als Buch, weitere Geschichten, Gedichte und Chansons.
Von letzteren gab es an dieser Buchvorstellung ebenfalls eine
Kostprobe. Ursprünglich als Einstieg in den Abend gedacht, doch
der Bajanspieler Valeri Funkner verspätete sich, bildeten die
Lieder jetzt den Ausklang. In gelebter Selbstironie, „Keine
Angst, ich bin authentisch!“ trug Wollenberg seine Lieder vor.
Und siehe da: Einige Motive des einsamen Selb tauchen hier in
lyrischer Form wieder auf. Im Lied „Emigrant“ wirft sich der
„treue, ach so alt schon müde Schatten“ vor die Füße des
Ichs, „um zu parieren“. Und in der „Ballade vom
vertrockneten Eisberg“ sagt dieses Ich sich, ein suchender
Wanderer: „Wohin ich auch gehe, / Zu trocken zu trocken zu
trocken / Zerflossener Berg du / Nach dem ich mich sehne“. Das
klingt doch fast romantisch, oder? Diese erste
Buchveröffentlichung Jens-Paul Wollenbergs ersetzt zwar nicht
seinen genialen, exzentrischen Vortrag, den man erleben oder
zumindest auf CD hören muss (derer gibt es zur Zeit drei Stück,
inklusive einer Aufnahme der Geschichte vom einsamen Selb), doch
sie vereint Texte aus über dreißig Jahren gelebter Anarchie,
Selb-Suche und lässt die vielen Ichs Jens-Paul Wollenbergs zu
Wort kommen. Und noch ein Vorschlag für AG: Authentische
Gratwanderung. Babette
Dieterich Mehr zum Buch unter www.fuenffinger.de
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